Von der Fantasie ins Reale

Operndirektorin Judith Lebiez über die Spielzeit 2024/2025

Wer hat nie Angst vor der Liebe empfunden? Wenn wir lieben, machen wir uns verletzlich. Wir setzen uns den schmerzhaften Möglichkeiten aus, abgelehnt zu werden oder die geliebte Person zu verlieren. Ein anderer Mensch wird für uns so wichtig, dass wir uns auch vor dem Verlust unseres selbstständigen Lebens fürchten können – die Bedürfnisse nach Verbindung und nach Autonomie sind nicht unbedingt leicht in Einklang zu bringen. Wir sehnen uns danach, gesehen und akzeptiert zu werden. Solange wir jedoch Teile von uns selbst nicht annehmen, haben wir Angst, uns zu zeigen, und daher auch Angst vor einer realen Beziehung. Die Liebe ruft alles hervor, was wir mit uns selbst noch nicht geklärt haben. Gleichzeitig eröffnet sie uns einen Raum, in dem ihre wundersame Kraft unsere seelischen Wunden heilen kann.

 

In dieser Spielzeit setzt sich das Musiktheater mit dem Spannungsfeld zwischen Fantasie und Realität auseinander, in dem sich die menschliche Liebe manifestiert. Beziehungen können alles sein – von einem Verhältnis zwischen Menschen, die ihre eigenen Fantasien und Verletzungen aufeinander projizieren und sich dabei völlig verpassen, bis hin zu einem Raum bedingungsloser Liebe, in dem die Beteiligten einander erkennen und schätzen, wie sie im Grunde sind. Die Reihenfolge der Musiktheaterpremieren stellt eine Reise von der Fantasie ins Reale dar und spiegelt dabei die Komplexität menschlicher Beziehungen wider.

 

Don Giovanni begibt sich in die reine Fantasie. Nur die Frauen, die sich ihm entziehen, wecken sein Interesse. Ab dem Moment, in dem sie sich in ihn verlieben, entflieht er. Er versteckt gerne, wer er ist, und kann Frauen kaum als die Menschen sehen, die sie sind – er betrachtet sie eher als Beute. Dabei ist er auch bereit, Gewalt anzuwenden. Letztlich benutzt Don Giovanni die Frauen als Projektionsfläche für seine Fantasien, ohne zu erkennen, dass sich reale Menschen hinter seinen Vorstellungen verbergen. In sich selbst lässt er nur das erotische Verlangen zu, nicht die Liebe.

 

In Hanjo geht es scheinbar um Liebe. Hanakos ganzes Leben dreht sich um ihren Geliebten Yoshio, dem sie trotz seiner langen Abwesenheit treu bleiben will. Doch als er endlich wieder vor ihr steht, ist sie unfähig, ihn zu erkennen. Ähnlich wie Don Giovanni zieht sie ihre Fantasie dem realen Menschen, dem sie begegnet, vor. Somit verpasst sie sowohl den Mann, der hinter ihrer Projektionsfläche steht, als auch ihr eigenes Leben. Obwohl Yoshio wiederum behauptet, dass er Hanako liebt, hat er sie jahrelang vernachlässigt. Hanako wohnt bei der Künstlerin Jitsuko, die auch gefangen in der obsessiven Beschäftigung mit einem unerreichbaren Liebesobjekt verharrt. Im Stück bleibt das Zustandekommen einer Liebesbeziehung unverwirklicht.

 

Strandrecht behandelt eine Liebesaffäre. Der junge Fischer Mark verliebt sich in die verheiratete Thirza. Für sie verlässt er seine Freundin Avis. Thirza und Mark sind bereit, zusammen zu fliehen. Dabei entscheiden sie sich nicht für eine Liebesbeziehung mit einem verfügbaren Partner, sondern für eine unmögliche Leidenschaft. Als sie zusammen Widerstand gegen die ethisch fragwürdigen Handlungen ihrer Gesellschaft leisten, nimmt ihr Verhältnis eine neue Dimension an, die in ihrem gemeinsamen Liebestod kulminiert.

 

Eine kulturübergreifende Liebesbeziehung steht zu Beginn bei Dido and Aeneas im Raum. Die beiden schätzen einander, ergänzen sich, zeigen sich bereit, sich für die Liebe zu öffnen, und sind sogar beide ledig. Es scheint, als könnten sie ihre kulturellen Unterschiede überwinden und sich durch ihre Beziehung auf der persönlichen und sozialen Ebene entfalten. Trotzdem kommt es zu einer Trennung, als Aeneas sich entscheidet, seinen politischen Aufgaben nachzugehen und dafür Dido zu verlassen. Als verkörperte Ausrede fungiert die Zauberin, die ihn dazu gedrängt haben soll, im Namen seiner Mission seine Beziehung zu zerstören. So kommen noch Fantasien ins Spiel, die zum Scheitern der Liebe führen.

 

Die lustige Witwe schildert die verworrenen Hindernisse, die einer Liebesbeziehung zwischen der Titelheldin Hanna und dem Grafen Danilo im Wege stehen. Im Grunde wollen alle, dass die beiden ein Paar werden. Auch Hannas und Danilos pontevedrinischen Mitbürger:innen setzen sich für diese vorteilhafte Beziehung ein, ohne allerdings zu wissen, dass Hanna und Danilo sich bereits von früher kennen. Damals ist ihre Beziehung an einem Standesunterschied gescheitert. Jetzt besteht dieser nicht mehr. Sie wären beide frei. Eigentlich lieben sie sich. Nur sind beide zu stolz, sich die Liebe einzugestehen. Erst nach einer Reihe von Behauptungen, Täuschungen und Missverständnissen finden sie den Mut, sich auf einer ehrlichen Basis zu begegnen. Dadurch öffnet sich der Rahmen für eine reale Liebesbeziehung.

 

„Zeit zu lieben“ lautet das Motto der Spielzeit. Zu lieben erfordert viel Mut. Den Mut, der Angst nicht zu gehorchen, den Stolz loszulassen, sich zu öffnen, das Risiko des Scheiterns einzugehen. In allen Stücken, die das Musiktheater in dieser Spielzeit aufführt, treten mutige Figuren auf, die sich bereit zeigen, über den eigenen Schatten zu springen. Lassen wir uns von diesen Figuren zu Mut und Liebe inspirieren!

Premieren 2024/2025

Don Giovanni
Dramma giocoso von Wolfgang Amadeus Mozart
Premiere 13. September 2024, Großes Haus

 

Hanjo
Oper in einem Akt von Toshio Hosokawa
Premiere 29. November 2024, M*Halle

 

Strandrecht
Oper in drei Akten von Ethel Smyth
Premiere 7. Februar 2025, Großes Haus

 

Dido and Aeneas
Oper in drei Akten von Henry Purcell
Premiere 28. März 2025, Großes Haus

 

Schlossfestspiele Schwerin 2025
Die lustige Witwe
Operette von Franz Lehár
Premiere 4. Juli 2025, Alter Garten

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